Der
Prinz und die Sonnenkönigin
(Märchen
aus Litauen, mündl. überliefert und nacherzählt)
In
alter Zeit lebte in einem Königreich, dessen Hauptstadt auf einem
roten Hügel stand, ein Königspaar. Königin und König hatten einen
Sohn, den sie über alles liebten und beschützten. Jeden Morgen gab
es für ihn weißen Quark mit Honig zu essen und Früchte aus den
fernsten Winkeln des Landes. Er war in den besten Gewändern
gekleidet und von allem hatte er stets nur Gutes und Auserlesenes.
Vater und Mutter hätten für ihren geliebten Sohn am liebsten die
Sonne vom Himmel gepflückt und ihm zum Geschenk gemacht.
Dennoch,
oder vielleicht gerade deswegen, war der junge Prinz unglücklich und
grüblerisch. Oft ging er so für sich durch die königlichen Gärten
und sprach: „Ach, wenn ich doch nicht so alleine wäre und
jemanden hätte, mit dem ich schwatzen und mir die Zeit vertreiben
könnte...“
Nahe des königlichen Schlosses gab es einen
Hof, umgeben von einer meterhohen Steinmauer, allein durch ein
schweres, schmiedeeisernes Tor zugänglich, das aber Tag und Nacht
verschlossen blieb und von grimmigen Wächtern bewacht wurde. Jedem
im Reich, den Königssohn eingeschlossen, war streng verboten, sich
dem Hof zu nähern, und die Wächter verscheuchten alle, die zu nahe
an den Hof herantraten.
Eines Nachts hatte der Prinz einen Traum:
ein schwarzer Rabe mit einem goldenen Ring um den Hals landete im
Mondschein auf dem Fensterbrett der prinzlichen Kammer. Als der
Königssohn den Vogel bemerkte, wie er da am Fenster saß, fing
dieser - zur nicht geringen Verwunderung des jungen Menschen - an, zu
sprechen. Der Vogel sagte: „Ich bin aus einem fernen Land jenseits
des Meeres gekommen, um dir ein Geheimnis von großer Bedeutung zu
verraten. Du kennst den Hof, der umgeben ist von einer hohen
steinernen Mauer? In diesem Hof steht in einem blühenden Garten ein
Häuschen. Darin sind deine drei Schwestern eingesperrt. Wenn du sie
sehen willst, so gehe heimlich in das Gemach deiner Eltern und suche
nach einem braunen Tonkrug. In diesem wirst du einen goldenen
Schlüssel finden. Mit diesem Schlüssel wirst du das Tor zum Hof und
die Tür zum Haus öffnen können. Aber gehe nur in der Nacht
dorthin. Bei Nacht macht der Schlüssel, dass dich die Wächter am
Tor nicht sehen können.“
Also
sprach der Rabe, breitete seine großen, schwarzen Flügel aus und
flog dahin.
Als der Prinz aus solchem Traume erwacht war,
entschloss er sich sogleich, in die Kammer seiner Eltern zu
schleichen um nachzuprüfen, was es mit dem, was der Rabe ihm sagte,
auf sich habe. Auf leisen Sohlen schlich er durch die Gänge der
königlichen Burg hin zum Zimmer des Königspaares. Die vor dem
Zimmer wachenden Windhunde streichelte er sanft. Sie erkannten ihn
auch und keiner der beiden begann, zu bellen. Alsdann schlich er sich
durch die Türe, fand den gesuchten Tonkrug, und darin den goldenen
Schlüssel. Nun gab es für ihn kein Halten mehr: Er eilte so schnell
und so leise wie er konnte los, kam bald an das Tor des ummauerten
Hofes – wie ihm durch den Raben angekündigt war, konnten die
Torwächter ihn nicht sehen -, sperrte behutsam das Tor auf, betrat
den darin liegenden Garten und erreichte dann das Häuschen in des
Gartens Mitte.
Der junge Königssohn zögerte einen Moment, als er
an der Tür des Hauses stand. Sollte er wirklich die Türe
aufschließen? Er nahm all seine Entschlossenheit zusammen, steckte
den Schlüssel in das Schloss und sperrte die Türe auf.
Da sah er
- wie ihm der Rabe gesagt hatte - in der Stube seine drei Schwestern
sitzen. Sie waren froh, dass er gekommen war und sie auch endlich
frische Luft aus dem Garten atmen konnten. Freudig streckten sie ihm
ihre lieben, weißen Händchen entgegen. Ach, doch was passierte nun?
Die Erde bebte und der Himmel verfinsterte sich. Vom Himmel herab kam
ein schwarzer Drache mit einem goldenen Maul. Der ergriff die drei
Schwestern und nahm sie mit sich fort. Der Prinz war nun sehr
bestürzt, da er seine Schwestern in ihr Unglück gestürzt hatte. Er
weinte sehr und verfluchte seine Neugier. Hätte er doch nicht auf
diesen unglückseligen schwarzen Raben gehört!
Als das
Königspaar von dem Geschehen hörte, waren Königin und König sehr
betroffen. Der König rief aus: „Ach, welch ein großes Unglück,
das du über uns gebracht hast! Schon bei deiner Geburt wurden böse
Vorzeichen gesehen und Unheil prophezeit! Nun, Sohn, packe dir einen
Rucksack und verlasse diesen Ort! Du kannst hier fortan nicht mehr
bleiben!“
Der junge Prinz weinte, tat aber, wie ihm befohlen
wurde, packte einen Rucksack mit einigen Habseligkeiten und ging
damit aus den Toren der Stadt, hinein in das weite Land, ohne recht
ein Ziel zu wissen.
Als
er so nun einige Zeit gegangen war, kam er an den Rand eines Waldes,
dessen Bäume aus Eisen waren. Am Rande des Eisenwaldes stand eine
Hütte. Er trat an die Tür der Hütte und klopfte an.
Eine alte,
in ein schwarzes Gewand gekleidete Frau öffnete ihm die Tür. Sie
sah wohl, dass es dem Jüngling, der da so allein vor ihrer Hütte
stand, schlecht erging. Also bat sie ihn in die Hütte und bei einem
Glas heißen Tees erzählte er seine Geschichte.
Als sie den
Bericht des Prinzen gehört hatte, sagte sie: „Du wirst deine
Schwestern so nie finden, denn du kennst die Welt nicht, hast auch
keine Kraft und weißt kein Handwerk zu verrichten. Bleibe bei mir
für drei Jahre! Ich will dich lehren, was du in der Welt brauchst
und wie du dir dein Brot erwerben kannst. Durch die Arbeit hier auf
dem Lande wirst du stark werden und dann wirst du es vielleicht auch
schaffen, deine Schwestern zu finden und zu befreien.“
Da der
Prinz selbst nicht wusste, was er besseres beginnen sollte, willigte
er ein. So arbeitete er am Rande des Eisenwaldes drei Jahre, half der
alten Frau, lernte auch so manches Handwerk und wurde geschickt und
kräftig dabei.
Als
die drei Jahre nun vorbei waren, rief die Alte den Prinzen erneut,
sich zu ihr an den Holztisch in der Stube zu setzen. Sie sagte zu
ihm: „Du bist mir in diesen drei Jahren wie ein Sohn geworden und
ich danke dir für deine Hilfe an Haus und Hof. Und nun höre: im
Eisernen Wald, der hinter dem Haus beginnt, steht ein Hügel, auf dem
eine Festung, gebaut aus eisernen Quadern, steht. Dort findest du
deine jüngste Schwester gefangen. Aber weiter! Im Lande hinter dem
Wald aus Eisen findest du einen weiteren Wald. Die Bäume dieses
Waldes sind aus Silber. Auch in diesem Wald steht ein Hügel, darauf
eine silberne Burg. Deine zweite Schwester ist dort. Aber weiter!
Hinter dem Silberwald ist ein Land, das von einem Wald aus Gold
bedeckt wird. Auch darin steht ein Hügel, darauf eine Burg aus purem
Gold. Deine älteste Schwester ist dort! Und nun ziehe dahin, mein
Sohn. Möge Gott dir bei deinem Vorhaben stets beistehen!“
So
ging der Prinz nun in das Dickicht des Eisenwaldes und fand, wie ihm
gesagt war, den Hügel und darauf die Burg aus Eisen. Er trat ans Tor
und klopfte. Ein Diener öffnete und fragte nach seinem Begehr.
„Meine Schwester sehen will ich und sie aus dieser Burg
befreien!“
„Sehen kannst du sie wohl.“ antwortete der Diener
und bedeutete dem Königssohn, ihm zu folgen. Er führte den Prinzen
in eine Kammer, in der seine Schwester auf einem, mit kunstvollen
Mustern verzierten, eisernen Stuhl saß.
Wie groß war die Freude
der beiden! Sie umarmten sich, redeten lange und waren froh zusammen
bei Speis und Trank. Als der Abend schließlich nahte, drang der
Prinz darauf, gemeinsam die Burg zu verlassen. Da wurde die jüngste
Schwester traurig und sagte: „Ach, Bruder, ich kann nicht fort von
hier. Mein Ehemann kehrt demnächst heim und ich will ihn nicht
verlassen, denn ich liebe ihn sehr. Der Prinz erwiderte, er wolle mit
dem Schwager reden, ihm alles erklären und vielleicht könne man ja
gar zusammen fortgehen, um die restlichen Schwestern zu finden und zu
befreien. „Ach, wäre es so einfach!“ sagte die Schwester darauf.
„Wisse, dass mein Ehemann von einem Magier, dem dieser Eisenwald
gehört, in einen Wolf verwandelt wurde. Mich ängstigt, er könnte
dich fressen, wenn er dich entdeckt. Komm, lieber Bruder, verstecke
dich in dieser Kiste hier, bevor mein Gemahl zurück ist!“
Der
Bruder folgte dem Geheiß seiner Schwester und versteckte sich in
einer Kiste, die am Fenster des Raumes stand. Kurz darauf öffnete
sich die Tür, und herein trat der in einen Wolf verwandelte Ehemann.
„Guten Abend, liebe Frau.“ sprach er und blickte sich danach
gründlich im Raum um. „Sag an, ist jemand hier gewesen? Es stehen
Teller und Becher auf dem Tisch!“ Da brachte es die jüngste
Schwester nicht übers Herz, ihren Mann anzulügen und sagte ihm:
„Mein Bruder hat mich gesucht und hat den Weg hierher in diesen
Wald gefunden. Gerne führte er mich wieder zurück in das Land
meiner Eltern. Oh, tu ihm nichts, ich bitte dich!“
Anders, als
sie befürchtet hatte, reagierte der verhexte Ehemann nun sehr
erfreut und wollte den Schwager unbedingt kennenlernen. Da kam der
Königssohn aus seiner Kiste und wurde von seinem neuen Schwager
herzlich begrüßt. Als man wieder bei einem Becher Wein am Tische
saß, kam die Rede darauf, wie denn der arme Mensch in einen Wolf
verwandelt wurde. „Sag, lieber Schwager“ setzte der Prinz zu
reden an, „kann man dir nicht helfen, deine Menschengestalt
zurückzugewinnen?“ Der Wolfsmensch seufzte und antwortete betrübt:
„Ach, ach. Freilich ist es möglich, mich von diesem Fluch zu
erlösen, der mich zwingt, bei Tag die Wälder ruhelos zu
durchstreifen und der mir diese schreckliche Gestalt gegeben hat.
Aber um Erlösung zu bewirken, muss jemand zur Sonnenkönigin in ihr
Schloss gehen und sie darum bitten. Nur sie kann solches bewirken.
Und dorthin ist bisher noch kein Sterblicher lebendig gelangt.“
„Sei nur getrost!“, redete der Prinz dem Schwager zu. „Ich will
dorthin gelangen und deinen Freispruch erwirken. Hab nur Zuversicht!
Gott wird mir helfen!“
Der
verwunschene Schwager war hoch erfreut, schüttelte dem jungen
Prinzen die Hand und umarmte ihn. Dann nahm er ein kleines Kästchen
aus einem Schrank. Darin lag eine Münze aus Silber, auf die eine
Sonne eingeprägt war. Diese reichte er dem Prinzen und sagte: „Das
ist mein größter Schatz. Nimm diese Münze an dich. Wer weiß,
vielleicht kannst du sie unterwegs gebrauchen.“
So wurde am
nächsten Morgen Abschied genommen und der Prinz zog fort, dem Wald
aus Silber entgegen.
Drei
Tage lief der Prinz, bis er den Rand des Silberwaldes erreichte.
Weitere vier Tage durchschritt er den Wald mit seinen seltsam
glänzenden Bäumen, bis er abermals einen Berg erreichte, auf dem,
wie ihm gesagt worden war, ebenfalls eine Burg stand. Der Prinz
erklomm den Berg, trat an das Burgtor und klopfte beherzt an. Es
öffnete ihm ein kleiner, dünner Mann, gekleidet in den einfachen
Gewändern der Bediensteten. Wiederum ward der Prinz um sein Begehr
gefragt, wiederum antwortete er, dass seine Schwester in jener Burg
sei und er sie sehen wolle. Da wurden die Züge des Dieners
verschlossen und mit unfreundlicher Stimme sagte er: „Nun, wer
durch das Tor will, der muss Weggeld zahlen können. Wer das nicht
kann, schreitet niemals durch dieses Tor. Kannst Du, junger Mann,
Weggeld zahlen, das sich ziemt?“
Fast wäre der Prinz entmutigt
umgekehrt, doch da fiel ihm die Münze ein, die ihm sein Schwager
geschenkt hatte. „Was kann ein Versuch schaden?“, sagte er sich,
griff in die Tasche, streckte dem Mann die Münze hin und rief keck:
„Da, nimm's! Und lass mich nun ein.“ Und zu seinem Erstaunen
steckte der Diener am Tor den Taler, nach kurzem Betrachten,
tatsächlich in seine Tasche und bedeutete dem Prinzen knapp, ihm zu
folgen.
Der
Diener führte ihn in die Kammer seiner Schwester. Und ach!, auch
hier war die Freude groß! Man fiel sich um den Hals, jubelte und die
Schwester holte gleich eine Kanne guten Weins herbei. So saß man,
trank und erzählte einander, was in der Zwischenzeit geschehen war.
Als es dämmerte und die letzten Sonnenstrahlen durch die Fenster der
Kammer drangen, fasste die Schwester den jungen Prinzen am Arm und
sprach zu ihm: „Nun, mein lieber Bruder, naht die Stunde, zu der
mein Gemahl nach Hause kommt. Aber wir müssen vorsichtig sein! Der
Geist eines ruhelosen Toten hat ihn in ein furchtbares Ungeheuer
verwandelt und ich fürchte, dass er dir etwas antun könnte, wenn er
dich erblickt. So komm und verstecke dich in dieser Seitenkammer!“
Als der Prinz in die Kammer gegangen war, schloss die Schwester
hinter ihm die Tür.
Kurz
darauf sprang die Tür des Saals auf und herein trat ein
fürchterliches Wesen mit schuppiger Haut, glühenden Kohleaugen und
Klauen anstelle von Händen.
„Liebe Frau, hier bin ich!“
sprach das Ungetüm. Aber sag, riecht es hier in der Kammer nicht
nach einem fremden Menschen? Hast du Besuch gehabt?“
Da trat der
Prinz aus seiner Kammer, grüßte freundlich und lies sich nichts von
seiner Furcht anmerken. Er sprach zu dem Ungeheuer: „Lieber
Schwager! Ich bin der Bruder deiner Frau und gekommen, um sie nach
Hause zu holen. Denn ich bin daran schuld, dass sie aus dem Land
unserer Eltern entführt wurde.“ Der zweite Schwager blickte den
Prinzen an, aber anstatt ihn, wie der Prinz befürchtet hatte, zu
zerreißen, sagte er traurig: „Ach, ich verstehe diesen Wunsch gut.
Auch ginge ich gerne mit euch und verließe diesen Ort lieber heute
als morgen. Doch durch den Fluch eines Geistes muss ich in dieser
Gestalt mein Dasein fristen und bin an diese Burg gebunden. Nur die
Sonnenkönigin kann mich freisprechen. Doch niemand, der klaren
Verstands ist, kann glauben, zu ihr gelangen zu können. Kein
sterblicher Mensch wird je lebendig dorthin kommen.“ Da reichte der
Prinz seinem neugewonnenen Schwager die Hand und sagte: „Zu eben
jener Sonnenkönigin bin ich auf dem Weg. Auch für dich will ich sie
bitten. Und wenn sie dich freigesprochen hat von diesem abscheulichen
Fluch, so kehre ich wieder und wir werden alle zusammen diesen Ort
verlassen.“
Als der Schwager merkte, wie ernst es dem Prinzen
war, freute er sich sehr. Er ging zu einer Truhe, nahm daraus einen
Taschenspiegel aus Gold, reichte ihm diesen und sagte: „Das ist
mein wertvollster Besitz. Wer weiß, vielleicht mag er dir auf
seltsame Weise noch nützen? Ich wünsche dir Glück! Wie froh will
ich sein, wenn dein Vorhaben gelingt!“
So
saß man noch eine Weile beisammen, trank Wein und sang Lieder aus
altüberlieferten Zeiten. Am nächsten Morgen schied der Prinz am Tor
von Schwester und Schwager.
Wieder
zog der Prinz durch das Land, kam an den Wald aus Gold, durchwanderte
ihn, erreichte den Berg mit der Burg darauf und klopfte an das
Burgtor. Aufgetan wurde ihm von einer mageren Dame mit wirrem,
schwarzem Haar. Er schilderte sein Begehr und bat, eingelassen zu
werden. „Nun, lieber Junge“ sagte die Dame „Gerne lasse ich
dich ein. Jedoch musst du mir vorher helfen, so du kannst. Kannst du
nicht, so kann auch ich dich nicht in die Burg einlassen. Wisse, mein
Herdfeuer in der Burgküche ist erloschen. Wenn du es neu entzünden
kannst, so sei willkommen, tritt herein und sei der Gast der Herrin
des Hauses und ihres Gemahls.“
Der
Prinz erwiderte, dass er das Herdfeuer wieder entzünden werde, ohne
jedoch zu wissen, wie er es anstellen soll. Nun, als er von der
Dienerin in die Küche geführt wurde, entsann er sich des vom
Schwager geschenkten Spiegels. Als Dienerin und Prinz an der schmalen
Tür der Küche angelangt waren, sprach der Prinz die Dienerin an.
„Warte einen Moment, Freundin. Bevor ich das Herdfeuer neu
entzünden werde, will ich dir ein Geschenk geben, dafür, dass du
mir so großes Vertrauen erwiesen hast und mich mit in diese
Burgküche genommen hast. Hier, sieh hin, diesen kunstreich
gearbeiteten Spiegel will ich dir schenken.“
Er reichte der Frau
den Spiegel. Sie strich mit dem Finger über die in den Rahmen
eingelassenen Ornamente und ihr Blick hellte sich auf. Sie nahm den
Griff des Spiegels und blickte in das Glas hinein. Da sah sie nun ihr
Gesicht. Schöner, heller und freundlicher, als es im schnöden Licht
der wirklichen Welt je erschienen wäre. Es war ganz so, als hätte
die Sonne selbst die Dienerin geküsst und ihr Antlitz auf immer
veredelt in jenem Spiegelbilde. Jedoch war es anders als ein bloßes
Trugbild. Was die Dienerin dort sah, war ihr eigenes Gesicht, jedoch
mit den Augen der Liebe betrachtet. So erhält jedes Wesen und jedes
Ding auf der Erde einen besonderen Anschein, wenn es mit den Augen
der Liebe angesehen wird und diese Wahrheit gilt bis zum heutigen
Tage.
Die
Dienerin vergaß alles um sich herum. Die Küche, das Herdfeuer,
sogar den jungen Prinzen. Gebannt blickte sie in den Spiegel und war
tief gerührt. Dem Prinzen war die Sache fast unheimlich. Auch hatte
er ein viel zu gutes Herz, als dass er sich einfach hätte
davonschleichen wollen. So rüttelte er die Dienerin sanft am Arm. Da
sah sie ihn mit sichtbar verwandeltem Wesen an und sagte: „Geh nun
zu deiner Schwester! Ich will das Herdfeuer selbst wieder in Gang
bringen. Geh nur und hab Dank!“
Der Prinz verschwendete
keine Zeit. Eilig lief er in die oberen Geschosse der Burg und fand
auch bald das Zimmer, in dem seine Schwester war. Abermals wurde
frohes Wiedersehen gefeiert, Wein getrunken, gelacht und gesungen!
Als der Prinz nun sprach und sagte, er wolle seine Schwester gerne
mit sich nehmen, vielleicht könne sie gar mit ihm an das Schloss der
Sonnenkönigin reisen und Freispruch für seine zwei Schwäger
erwirken, da begann die Schwester zu weinen. „O, Bruder, ich kann
nicht! Wisse, auch mein Mann ist durch böse Mächte verwunschen und
muss nun in der Gestalt eines grünen Waldteufels die Erde bewandern.
Auf einer seiner Reisen hat er sich nämlich mit dem Geist der Rache
angelegt, als er sich weigerte, ein Unrecht, dass ihm getan wurde,
mit gleicher Münze heimzuzahlen. So hat ihn der Geist der Rache in
einen scheußlichen und grünen Waldgeist verwandelt. O, und nur die
Sonnenkönigin hat die Macht, ihn von diesem garstigen Zauber zu
befreien!“
Als sie so klagte, sprang mit einem Mal die Türe auf
und herein trat der Ehemann der dritten Schwester. Einen Moment lang
hatten Schwester und der jugendliche Held unserer Erzählung Angst,
nun könne großes Unheil geschehen. Aber auch dieses Mal wurde der
verhexte Schwager froh im Herzen, als er erfuhr, wen er vor sich
hatte. Er klopfte dem Prinzen auf die Schulter und forderte ihn auf,
zu erzählen, woher er kam, wohin er ging und was er bisher erlebt
hatte. Und es wurde erneut gesungen und getrunken!
Der
Abend war schon weit gediehen und der Prinz hatte seinen Bericht
geendigt. Da fasste er seinen Schwager an der Hand, sah in fest an
und sagte: „So, lieber Schwager. Die Zeit ist gekommen, wo ich mich
zur Nachtruhe begeben will. Ich danke euch für die Gastfreundschaft
in eurem Haus. Du hast mich bisher nicht darum gebeten, aber da ich
ohnehin dorthin muss, so will ich auch dein Anliegen mit an das
Schloss der Sonnenkönigin tragen und will sie bitten, dich
loszusprechen von deinem Fluch.“
Froh sagte auch dieser dritte
Schwager dem Jüngling seinen Dank. Dann wurde er ernst und sprach:
„Hinter diesem Wald aus Gold befindet sich ein weites Grasland. Das
musst du durchschreiten, bis du an einen hohen Berg kommst, den
höchsten, den die Menschen kennen. Er wird 'Thron des Lichts'
geheißen. Seine Wände sind steil und glatt, und ich glaubte nicht,
dass ein menschliches Wesen diesen Berg erklimmen kann. Jedoch, du
bist anders als alle Männer, die ich in meinem ganzen Leben
getroffen habe. Wer weiß, vielleicht bist du derjenige, der es
schaffen kann.
Erklettere also diesen Berg. Auf dessen Gipfel ist
eine große Fläche aus Eis und Schnee. Auf dieser Ebene steht das
Schloss der Sonnenkönigin. Viel Glück! Der Segen Gottes sei mit
dir!“
So
sprach er und reichte dem jungen Prinzen ein Klettergeschirr. „Es
ist ein besonderes Klettergeschirr, aus hartem Metall, die Seile
weich und biegsam und dennoch unzerreißbar“ Weiterhin gab er ihm
ein unscheinbares, grobes Kästchen aus Holz. „Hier, nimm. Öffne
dies Kästchen, wann immer du in Not bist! Nimm beides, ich schenk's
dir. Und nun Gottes Segen, Gottes Segen, Bruder!“
***
Am
Tag darauf begann der Prinz seinen Weg, zog durch das riesige, weite
Grasland im Osten, ernährte sich von Wurzeln, Beeren, kleinen Tieren
und Vogeleiern auf dem Wege. Es schien ihm die Sonne den ganzen Tag
auf den Kopf, da kaum Bäume, sondern vornehmlich Büsche, Sträucher
und Gräser die Ebene bedeckten. So zog er viele Tage dahin. Nachts
schlief er eingewickelt in eine Decke aus Schafswolle, über ihm der
Mond und das Sternenzelt. Ab und an rief ein Vogel im Dunkeln, zog
eine Krähe, unbemerkt von dem Wanderer, am Himmel dahin, von Süd
nach Nord, in der festen Dunkelheit.
Am
neunten Tage erreichte er den Berg, der bei den Leuten „Thron des
Lichts“ genannt wird. Hoch und groß stand er vor ihm, wie eine
Speerspitze, die den Himmel durchbohrte, weiß wie Licht, kalt und
glänzend vom Eis und dem glatten Gestein, wie ein Schmuckstück aus
Silber. Am Fuße des Berges rastete der Jüngling und am Folgetag
begann er seinen Aufstieg.
Drei Tage und Nächte kletterte der
Prinz, schlief in Felsspalten, eingehängt in glatte Wände, aß nur
Moose und Flechten, die selten in den Wänden wuchsen. Drei Tage und
Nächte kletterte der Prinz, am Tage verbrannt vom Licht der Sonne,
in der Nacht gestochen vom Blinken des Nordsterns, der hoch, noch
höher als der Gipfel stand, wie eine Krone aus Eisen.
Drei Tage
und Nächte kletterte der Prinz und erreichte schließlich den Gipfel
und die besagte Ebene. Weit lag sie vor ihm, weiß wie ein Tischtuch
auf königlichem Tische. Kalte Luft schnitt ihm ins Gesicht. In der
Mitte der Ebene sah er das Schloss aufragen, in dem die Sonnenkönigin
wohnen musste. Groß und erhaben, über den Schlosstürmen, stand
strahlend die Sonne, gleißend wie Gold an der Hand der Königin,
hoch über der Welt.
Der
Königssohn trat an das Tor des Schlosses und klopfte an. Von drinnen
drang eine raue Stimme: „Was willst du, verwegener Recke, und warum
klopfst du an?“
„Zur Sonnenkönigin will ich.“, antwortete
der Prinz. „Und was willst du von ihr?“, antwortete die Stimme.
„Nichts, was dich interessieren müsste. Mach die Tür auf! Ich
werde ihr selbst sagen, was ich von ihr will.“ Wiederum antwortete
die Stimme hinter der Türe: „Oh, sag, willst du am Ende um die
Sonnenkönigin werben?“ „Vielleicht. Was betrifft's dich?“,
sagte da der Prinz. Von hoher Zinne herab erklang nun ein Lachen,
ohne dass man hätte sagen können, wer da lachte. Eine Stimme,
wieder von hoch oben herab, sprach: „So öffnet die Tür und
geleitet den Burschen vor dem Tor in unser feinstes Gastgemach.“
Die
Tür sprang auf und ein ziehender, sausender Wind packte den Prinzen
und trug ihn in einen Raum, der mit dicken Steinmauern gebaut war.
Licht drang nur durch ein kleines Fenster, das die Form eines Herzens
hatte. Der Boden war ebenfalls aus kaltem Stein. So wie der Prinz in
den Raum geweht war, schlug die massive Tür zu.
Als sich der
junge Mann im Raum umsah, erblickte er 28 alte Männer in den Ecken
des Raumes sitzen. Alle waren blass im Gesicht und wirkten krank und
hoffnungslos. Ihre Haare und langen Bärte waren grau und verfilzt,
ihr Gesicht voller Dreck.
„Wer seid ihr und was macht ihr hier?“
fragte der Prinz verwundert.
„Du siehst uns, wie wir jetzt
aussehen. Einst waren wir alle Prinzen und Fürsten edlen Geblütes
aus allen Teilen der Erde, in unseren besten Jahren, schön und
kräftig, mutig und stolz.“, antworte einer. „Wir alle wollten
hier um die Hand der Sonnenkönigin anhalten. Ich sitze hier nun
schon zweihundertdreißig Jahre und jener dort in der Ecke, er ist
der älteste von uns, ist schon seit sechshundert Jahren an diesem
Ort.“
„Seid zuversichtlich, edle Greise“, erwiderte der
Prinz. „Wir werden uns befreien. Neunundzwanzig gescheite Menschen
finden in jeder Situation einen klugen Plan!“
Doch die alten
Männer schüttelten nur ihre grauen Köpfe, murmelten
Unverständliches und jammerten in ihre Bärte hinein.
Da pochte
es am Fenster und eine zarte, weiße Hand warf eine handvoll
Gerstenkörner in den Raum. Auch wurden drei Krüge Wasser mit einem
Seil in den Raum hinuntergelassen. Die Greise sprangen mit ungeahnter
Wendigkeit auf, leckten die Gerstenkörner vom Boden und stürzten
sich auf die Wasserkrüge. „Stille auch du deinen Hunger, mein
Sohn. Diese Gerste ist unsere einzige Nahrung, dieses Wasser ist
unser einziges Getränk.“ „Niemals soll es dazu kommen!“,
entgegnete der Prinz. „Ich will keinen Hafer vom Boden picken, und
auch das Wasser trinke ich nicht! Bin ich denn eine Gans?“ „Warte
ab, der Hunger wird dir deine Lektion schon lehren, Söhnchen.“
sprach da der alte Mann und sammelte schnell noch einige Körner, die
vor ihm auf dem kalten Fußboden lagen.
Der Prinz jedoch griff
sich einen Krug und schleuderte ihn voll Gewalt zu dem Fenster hin,
durch das der Wasserkrug hinabgelassen worden war. Auch warf er eine
Handvoll Gerste durch das Fenster oben in der Wand.
„Was tust
du?“, riefen da die alten Männer entsetzt. Bis zum morgigen Tag
bekommen wir nichts mehr zu essen!“ „Keine Angst, nehmt ruhig
auch die elenden Körner und werft sie ihr in die Augen, damit sie
fortan keinen Menschen mehr verspotten soll.“ Erneut nahm er eine
Hand Körner, um sie durch das Fenster zu schleudern. Die Greise
stöhnten verzweifelt und rauften sich die Haare. Da nahm der Prinz
das Kästchen zur Hand, das sein Schwager ihm vor der Abreise
geschenkt hatte. Er tat es auf und, ungeachtet der kleinen Größe
des Kästchens, fand er darin die ausgefallensten Speisen und
Getränke. Er zog edlen Schinken, vier verschiedene Brote, Weine,
mehrere Sorten Bier und einen runden Laib Käse hervor und, egal wie
oft er etwas aus dem Kästchen nahm, sofort lag darin eine neue,
raffinierte Speise bereit. Da ging es mit einem Mal heiter zu in dem
Verlies. Die Greise und der Prinz aßen und tranken so viel sie
konnten, auch machten Wein und Bier sie fröhlich, und so begannen
sie zu singen, zum Schluss sogar einen mehrstimmigen Kanon.
Eine
Dienerin der Sonnenkönigin spähte durch das kleine Fenster herein
und betrachtete die wunderliche Szene. Sie eilte zu ihrer Herrin und
berichtete ihr von dem Freudenfest, das da dank des Königssohnes und
des magischen Kästchens in jenem Kerker gefeiert wurde.
„Geh!“,
sagte da die Sonnenkönigin, „Geh zu dem Prinzen und sag ihm, dass
ich das Kästchen kaufen will. Sag ihm, die Sonnenkönigin befiehlt
ihm, ihr das Kästchen zu verkaufen.“
Wie ihr geheißen war,
ging die Dienerin in das Verlies und sagte zu dem Prinzen: „Gib mir
dieses verzauberte Kästchen. Die Sonnenkönigin befiehlt dir, es ihr
zu verkaufen.“ Der junge Königssohn jedoch beachtete ihre Worte
nicht. „Komm zu uns, liebe Dienerin, setze dich! Nimm dir eine
Scheibe guten Brotes, schneide dir von jenem Käse herunter und, vor
allem, verschmähe nicht den wunderbaren Wein! Danach wollen wir
weiter reden.“ Sie tat, wie er sagte und nahm von allen Speisen,
auch sprach sie dem Wein nicht schlecht zu. Als so eine Stunde
dahinging, wurde die Sonnenkönigin unruhig, da ihre Dienerin noch
nicht zurückgekehrt war. So entschied sie, selbst nach dem Rechten
zu sehen.
Licht
durchflutete den Kerkerraum, als die Sonnenkönigin die Tür
aufstieß. Sofort wurde sie ihrer Dienerin gewahr und rief zornig:
„Du unzuverlässige Faulenzerin! Steh auf und folge mir! Dann lege
Rechenschaft ab über den Auftrag, den ich dir gab!“ Die Dienerin
war mittlerweile von dem genossenen Wein keck und übermütig
geworden. Geradeheraus sagte sie der Sonnenkönigin ins Gesicht, dass
sie keine Not sehe, die Runde schon zu verlassen. Der Wein schmecke
vorzüglich, auch die Speisen seien nicht übel und überhaupt müsse
sie hier im Schloss viel zu viel arbeiten. Kurz und gut: sie bleibe,
die Königin solle morgen wieder kommen, aber nicht vor der
Mittagszeit, und sie solle auch das Frühstück für die Dienerin
nicht vergessen zu bringen.
Zornesflammen umwallten da das schöne
Gesicht der Sonnenkönigin. Sie sah den Prinzen an und rief: „Du
elender Mensch hast das mit deinem vermaledeiten Kästchen
angerichtet! So sprich also, was willst du dafür haben?“ „Oh, du
wunderschöne Herrscherin! Du hast mein Herz gewonnen mit deiner
Schönheit und deinem wilden Zorn! Was du willst, ich will es dir
geben, sei das Kästchen, die Sterne vom Himmel oder mich, deinen
untertänigsten Diener!“, rief der Prinz aus.
„Ich nehme das
erste, das zweite, und das dritte ebenso.“, erwiderte die Königin
nach kurzem Überlegen und reichte dem Prinzen ihre edle und zarte
Hand. „Die Sonnenkönigin bin ich. Und du sollst fortan mein Gemahl
sein. Dieses Schloss soll auch deines sein. Was du beschließt, ich
will es billigen!“
Nach einem Jahr der Vorbereitung für
solch ein großes Fest wurde schließlich die Hochzeit der
Sonnenkönigin und des jungen Prinzen gefeiert. Alle Türen in dem
Schloss der Sonnenkönigin wurden aufgetan, und alle Farben und alles
Leben, was darin aufbewahrt war, kamen heraus, um diesen Tag würdig
zu begehen. Die Erde wurde hell und Blumen sprossen hervor in den
Ländern vor dem Berg, der „Thron des Lichts“ genannt wird.
Glockenblumen, roter Mohn und die blaue Kornblume zeigten an den
Wegrändern ihr Gesicht. Der Himmel über der Welt färbte sich in
ein zartes Rosenrot und der Hochzeitsschleier der Königin, der
Regenbogen, war über allen Landen zu sehen.
Und auch das
Versprechen des Prinzen, bei der Sonnenkönigin den Freispruch der
verwunschenen Schwäger, zu erwirken, wurde eingelöst. Die gute
Königin verwandelte alle drei zurück in Menschen und ließ die drei
Schwestern und ihre Männer in goldene Triumphwägen steigen. Sie
selbst und der Prinz bestiegen ebenfalls einen solchen Wagen und so
fuhren fünf Wägen zurück in das Land, aus dem der Prinz
aufgebrochen war, um die Eltern zu besuchen. Aber, so wird man nun
fragen, wer war in dem fünften Wagen? In dem fünften Wagen fuhr der
Abendstern über die Welt, die kleine Tochter der Sonnenkönigin, die
sie dem Prinzen geboren hatte.
(Illustration: Leif Günter,
Text: Tobias Amann)