“W oder eine Hommage"
Mitten auf dem Platz im Kreisel saßen wir uns gegenüber und es stürmte und regnete und sicher war es ein Tag im November.
Auf deiner Seite ging es zur Autobahn, auf meiner ganz woandershin ("War es schon vorher kalt zwischen uns?", möchte ich dich heute gerne fragen). Vor dem Regen schützte uns ein Klettergebüsch, ringsherum und hoch gewachsen, über unsere Köpfe hinweg. "Dornröschenzaun" hast Du dazu gesagt, das weiß ich noch. Es dämpfte kaum den auf- und abschwellende Lärm einer Stadt im Herbst, kaum von uns entfernt, eine Mischung aus Autokrach, Regen und Wind. Waren die Autos für einen Moment ruhiger, hörte man ihn das Laub verwirbeln.
"Niemand kann uns sehen", sagtest Du noch.
Wir beide waren froh, genau hier zu sein ("Sag, stimmt es?", mag ich dich fragen und auffordernd angucken), vielleicht gerade weil es albern war, sich genau hier zu treffen, in der Mitte zwischen unseren Städten. Deine war alt, bräsig, katholisch und das gefiel mir; meine versprach Freiheit vor deinem Alltag (ich glaube, dass dir das gefiel). Hier wohnte nur, wer es sich nicht woanders leisten konnte oder weil Oma noch etwas Bauland hatte; dort wo früher die Apfelbäume blühten, hinter den Bahngleisen. Bald würden wir wieder fort sein, in unseren Städten oder vielleicht doch bei dir, nur für ein paar Stunden --
Wir spielten wieder dieses dumme Spiel.
Ich wollte wieder dieses dumme Spiel spielen. "Erzähl mir ein Geheimnis", wollte ich sagen. Und traute mich nicht. Zum Zweifeln aber hatte ich Mut: Wäre es nicht ein Trick, um Nähe herzustellen? Geschichten erzählen, die persönlich sein sollen und nicht ohne Superlativ auskommen, Erzählungen vom Peinlichsten, von Noch-Nies und dem Verstecktesten. Ich wollte etwas hören, von dir etwas hören, das mich meint, das dich für mich erzählt, ausgesprochen in Verletzlichkeit. Hat es etwas unaufrichtiges, die Teilnahme an so einer Erzählung einzufordern? Ist es ein dummes Spiel? Gar brutal? ("Was gibt es sonst?", würde ich gerne jemandem, vielleicht dir, zuflüstern, kaum verständlich, weggenuschelt.) Und traute mich nicht.
Aber Du sagtest damals, als ich den Autos und dem Regen zuhörte und schwieg: "Komm, erzähl mir ein Geheimnis. Ich erzähl dir auch eines von mir. Versprich: Du sagst es nicht weiter!".
"Ich fang an!", sagtest Du kurz darauf.
"Ich wollte immer schöner sein, auch als ich noch ganz klein war". Jedes Wort hörte sich an, als ob es einen langen Weg zurückgelegt hatte. Vielleicht von deinem Kopf in deinen Mund über den Umweg einiger Zensurstellen, die es nur gegen Widerstand passieren konnte. Was dabei wohl mit ihm passiert war? Können verletzliche Worte gepanzert sein?
Du erzähltest davon, dass Du den Zopf, den dir deine Mutter abgeschnitten hatte, hinten im Schrank versteckest, vor Jahren, genau an der Stelle wo andere Kinder den Eingang zu einer anderen Welt vermuten. In einer kalten Nacht, sagtest Du, hast du ihn erausgeholt und angezündet, im Garten. Dann das wisse ja jedes Kind: "Hexerei erfordert Opfer".
"Eine Zutat für einen Zauberspruch war das. Ich wollte schöner werden, zauberhaft schön". Du hattest davon gesprochen, wie der alte Zopf knisternd brannte, und es Nacht war, bestimmt schon nach 10 Uhr, und Du hexenböse durch das Rosenbeet gestampft bist. "Das war hinten bei der Regentonne, weißt Du", hattest Du noch lakonisch nachgesetzt, einen Moment auflachend, nur um im nächsten wieder ernst zu werden und schwer zu sprechen. "Ich habe das noch nie jemandem erzählt."
"Jetzt Du", sagtest Du forsch mich ansehend und schnell wegguckend, als wärst Du nicht schon bestimmt über 30, wirklich alt also, so wie ich auch bald.
"Weißt Du, ich mag W.", brachte ich heraus, vernuschelt, allein das Wort W. überbetont, als zöge es mich herunter, ankergleich, als wäre bereits die Aussprache ein Kraftakt. "Eigentlich schäme ich mich nicht mehr dafür, zumindest in der Anwesenheit der richtigen Personen --", bevor ich den Satz beenden konnte, hattest Du mich unterbrochen, laut ausrufend, "Was soll das denn! Immer diese Abstraktion! Du solltest eine Geschichte erzählen!". Ich konnte nur, irritiert war ich, beobachten, was passiert war. "Die Spiegelregel ist 'Keine Unterbrechung!'", warf ich, die Situation fliehend, schiedsrichterseinwollend, ein.
Warst Du verärgert, als ich weiter sprach? So wie ich eben spreche? (Ich habe doch nur diese Worte; "magst Du mir andere geben?", hätte ich gerne gesagt und dich angeguckt und schnell fortgeblickt).
Und ich wollte fortsetzen, weiter spielen, doch Du warst nicht mehr einverstanden. Stand dein Dornröschenzaun noch? Ich hätte schon den Blick abgewendet, als ich nachsetze, mit rotem Gesicht, geschützt im Herbsthalblicht: “Mit der richtigen Person." Und traute mich nicht dem Faden weiter zu folgen, den ich so zufällig an deinem Rocksaum gefunden hatte, nutzlos baumelnd.
Wohin er uns geführt hätte?
Ich hätte dich fragen wollen: Weißt Du noch, wie wir über den Zaun geklettert sind, um dann auf dem Schulhof zu stehen und auch nicht zu wissen, was nun? Wie wir vom Sandhügel rannten und fielen bei der Baustelle? Wie Du dumme, alberne, zweifelhafte Spiele spielen wolltest und ich sie spielen konnte, weil Du ja da warst? Und wie ich nervös wurde, kurz nachdem die Spielregeln nicht mehr die Situation regierten?
Hatte ich das gesagt?
(Was hatte ich gesagt? Damals im Kreisel, während die Autos rauschten und der Regen fiel und die Wind blies und wir geschützt waren: Es klingt alles falsch. Wir hätten Worte erfunden und es hätte Metaphern gestürmt, wir hätten die Phantasien anprobiert wie zufällig gefundene Kleidung, die vorher nutzlos in irgendeinem fremden Keller lag; unsicher noch, ob es Kostüme sind, tauglich nur für den Moment, dort wo der Alltag nicht hinscheint.)
Ich weiß noch, wie Du geantwortet hast.
“Du kannst machen, was Du willst", sagtest Du und schautest mich dabei nicht an.
Dann brach der Regen durch. Unser Kreisel schützte uns nun nicht mehr, wir beide nass, und ich rannte zur Bahn in meine Richtung und Du in die andere. Vielleicht war das keine gute Idee, dir das im Herbststurm zu erzählen, der doch die Aufgabe hat, das Tote von den Bäumen zu tragen, in dem das Nochwarme gegen das Schonkalte kämpft, hier im November oder vielleicht noch im Oktober ("die Trauben aber waren schon geerntet", hättest Du vielleicht gesagt). Sicher ist, ich habe es gelesen: Erst im Frühling, im ersten warmen Licht, entsteht das Neue.
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